Proteus – Handschriftengeheimnisse aufdecken

Mohamed Basuony, Nuray Haskilic und Aşina Aleyna Yıldız
Dieser Blogbeitrag stellt eine der neuesten Apps zur MSI-Technologie (Multispektralfotografie) vor, die derzeit an der Universität Göttingen von Mitgliedern des Projekts eManuSkript entwickelt wird. Proteus ist eine Anwendung, die die Nachbearbeitung vereinfacht, indem sie benutzerfreundliche Funktionen bereitstellt, die einzeln oder übereinander verwendet werden können, um ein möglichst leserliches Bild einer Handschriftenseite zu erhalten. Bei der Entwicklung von Proteus war es unser Ziel, eine leicht zugängliche und verständliche App zu entwickeln, die sowohl für erfahrene Wissenschaftler*innen als auch für Student*innen von Nutzen sein kann.
Alte Handschriften enthalten viele historische Schätze, deren Details für das bloße Auge oft unsichtbar bleiben. Hier kommt Proteus ins Spiel – ein multispektrales Bildgebungswerkzeug, das die Art und Weise verändert, wie wir mittelalterliche Handschriften betrachten. Wenn man alte Handschriften studiert oder Paläograph*in ist, ermöglicht einem Proteus, die verborgene Seite der Handschriften zu sehen. Es zeigt uns wichtige unsichtbare Details, die sonst übersehen würden.
Die Handschrift scannen: Jedes Detail erfassen
Noch bevor Proteus ins Spiel kommt, beginnt die Arbeit mit hochauflösenden .tif-Bildern. Diese Bilder werden speziell mit MSI-Technologie gescannt, die bestimmte Lichtwellenlängen verwendet, um mehr als das Sichtbare zu erfassen. Durch den Einsatz dieser Lichtquellen und spezieller Filter, die bestimmte Wellenlängen isolieren und erfassen, weisen die gescannten Bilder schwache Tintenreste und Wasserzeichen auf und ermöglichen es in manchen Fällen, den Text von Beschädigungen zu unterscheiden.1 Dieses präzise Scannen stellt sicher, dass jedes Detail der Handschrift sichtbar wird. Es bildet die ideale Grundlage, damit Proteus gute Ergebnisse erzielen kann.
Funktionen, die Geschichte lebendig machen
Proteus zeigt mehr als nur ein gescanntes Bild; es bringt unsichtbare Schichten zum Vorschein und verbessert sie, wodurch Handschriften als Teil des kulturellen Erbes intensiver erforscht werden können. Werfen wir nun einen Blick auf die Funktionen von Proteus und wie jede einzelne eine wichtige Rolle bei der Analyse von Handschriften spielen kann.
Pseudocolour: Diese Funktion ermöglicht es, Teile des Bildes mit „falschen Farben“ je nach Helligkeit hervorzuheben, um ihre spektralen Unterschiede aufzuzeigen. Was ist die Bedeutung dieser Funktion? In vielen Handschriften finden wir Tinte, die so stark verblasst ist, dass es sehr schwer ist, die Überreste eines Buchstabens nachzuvollziehen, was es nahezu unmöglich macht, den Text zu lesen. Pseudofarben schaffen kleine Kontraste in der Handschrift, indem sie Tinte und Pergament auf unterschiedlichen Farbspektren darstellen und so den Text vom Hintergrund trennen. Dadurch können wir zwischen Tinte, Flecken und manchmal sogar gelöschtem Text unterscheiden. Die Funktion „Pseudofarben“ bringt diese Details wieder zum Leben und ermöglicht es uns, zu sehen, wie die Handschrift einst aussah.
Power: Da es in der Vergangenheit keine strikten Regeln zur Konservierung von Handschriften gab, wurden mittelalterliche Handschriften oft unter schlechten Bedingungen aufbewahrt, was im Laufe der Zeit zu Schäden führte. Zusätzlich zum Zeitfaktor beeinflussten auch andere Elemente wie die Art der verwendeten Tinte, wie gut der Text über die Zeit hinweg lesbar geblieben ist. Mit dem Power-Tool wird versucht, den beschädigten Teil auszublenden. Das Anpassen von Kontrast und Helligkeit einer gescannten Handschrift mag einfach erscheinen, ist jedoch ein entscheidender Schlüssel, um verblasste Markierungen, Wasserschäden oder Flecken, die den Text verdecken, sichtbar zu machen. Das „Power“-Tool gibt den Benutzer*innen die Kontrolle darüber, wie die Sichtbarkeit gesteigert werden kann. Bereiche, die einst aufgrund von Beschädigungen unleserlich waren, können wieder lesbar werden, sodass der Text leichter zu lesen ist.
Sharpen: Handschriften befinden sich selten in gutem, sauberem Zustand. Das Sharpen-Tool verstärkt die Schärfe des Bildes und hebt selbst die schwächsten Striche hervor, wie schwer erkennbare Haarlinien sowie alle feinen Linien der Schrift. Dies ist besonders nützlich bei der Analyse von illuminierten Handschriften, bei denen die komplexen, feinen Details im Laufe der Zeit verschlechtert wurden. Durch das Schärfen des Bildes können wir Details in Illustrationen, Ornamenten und der Schrift wiederherstellen, die einst verloren gegangen waren. Für Forschende, die sich mit paläographischen Themen befassen, hilft diese Funktion, verschiedene Schreiber zu identifizieren oder Korrekturen zu erkennen, die im Laufe der Jahrhunderte vorgenommen wurden.
Invert: Das menschliche Auge sieht oft besser, wenn ein Bild invertiert wird – dunkle Bereiche werden hell und helle dunkel. Genau das macht das Invert-Tool: Es kehrt die Tonwerte des Bildes um. Dieses Werkzeug ist nützlich, um Wasserzeichen, gelöschten Text oder geprägte Designs einer Handschrift zu untersuchen. Durch das Invertieren der Farben können Benutzer*innen Details erkennen, die zuvor übersehen wurden, oder bessere Vergleiche zwischen ursprünglichen und veränderten Teilen der Handschrift anstellen. Für Forschende spielt diese Funktion eine Schlüsselrolle bei der Identifizierung von Texten, die gelöscht oder überschrieben wurden.
Blur & Divide: Weichzeichnen (Blur) mag nicht als offensichtliche Wahl für die Textanalyse erscheinen, spielt jedoch trotzdem eine große Rolle dabei, Muster oder größere Strukturen in der Handschrift zu erkennen, die andernfalls verwechselt werden könnten. Es glättet kleine Unterschiede und erleichtert, sich auf größere, wichtigere Teile wie Randnotizen, Erklärungen oder ausgefallene Schriften zu konzentrieren. „Teilen“ (Divide) hingegen ermöglicht es den Benutzer*innen, verschiedene Schichten oder Teile innerhalb des Bildes zu trennen, um sie genauer zu betrachten. Diese Funktion ist besonders nützlich, wenn es darum geht, Seiten mit unterschiedlichen Inhalten aufzuschlüsseln, wie Handschriften, die sowohl Text als auch detaillierte Illuminationen enthalten.
Noise Reduction: Digitales Rauschen kann ein Bild beeinträchtigen, indem es unnötige „Körnung“ hinzufügt, die die Betrachtung der Handschrift erschwert. Die Rauschreduzierung spielt eine Schlüsselrolle bei der Beseitigung dieser digitalen Fehler, insbesondere bei älteren oder beschädigten Scans. Dies ist besonders wichtig, wenn man es mit dunklen oder zu hellen Bildern zu tun hat, bei denen Rauschen oft ein großes Problem darstellt. Sobald das Rauschen entfernt ist, treten die wahren Details der Handschrift deutlicher hervor, was eine genauere und schnellere Analyse ermöglicht.
PCA (Principal Component Analysis): Die Principal Component Analysis ist die Hauptfunktion von Proteus; sie wendet mathematische Formeln an, um spektrale Unterschiede in der Handschrift herauszuarbeiten. Schichten und Muster werden angezeigt, die im normalen Licht nicht sichtbar sind. Pergamenthandschriften können beispielsweise für das bloße Auge unsichtbare Schichten enthalten, etwa wenn eine Seite oder Textstelle abgeschabt und neu beschrieben wurde (ein sogenanntes Palimpsest). PCA ermöglicht es Expert*innen, diese Schichten sichtbar zu machen und dadurch die verborgene Geschichte einer Handschrift zu enthüllen. Durch die Darstellung der spektralen Unterschiede zwischen Tinten, Pergamenten und Flecken offenbart PCA die wahre Struktur und den Inhalt der Handschrift. Es zeigt versteckten Text oder sogar Details über das Material, aus dem es besteht, und macht es damit möglich, die verschiedenen Entstehungs- und Bearbeitungsstufen dieser Handschrift zu erkennen.
Beispiel: Die Principal Component Analysis (PCA) in Aktion
Um zu verstehen, wie PCA Gegebenheiten verändert, wird folgendes Beispiel betrachtet:
Vor PCA: Im ersten gescannten Bild sieht man den Text. Die Tinte ist im Laufe der Zeit verblasst, und Teile der Handschrift sind schwer zu erkennen, weil sie alt und abgenutzt ist.

Nach PCA: Nach der Anwendung mit PCA zeigt sich der Gewinn dieser Anwendung auf versteckte Tintenschichten. Es bringt gelöschten oder verblassten Text ans Licht, der vorher nicht erkennbar war. Die spektralen Unterschiede der Tinte werden klar sichtbar und zeigen schwache Buchstaben und Striche, die das menschliche Auge nicht sehen konnte. PCA verstärkt diese Details nicht nur, sondern trennt auch verschiedene Textschichten, sodass Forschende sie genauer analysieren können.

Proteus erlaubt den Benutzer*innen genau und präzise zu analysieren, was die Zeit hat verschwinden lassen.
Effekte erkunden und kombinieren
Proteus geht über das bloße Hinzufügen von Effekten hinaus. Nach der Erstellung eines Bildes mit einer dieser Funktionen kann man durch zwei Tools tiefer in die Analyse eintauchen:
- Highlighting Tool: Es ermöglicht, wichtige Bereiche direkt im Bild zu markieren und hervorzuheben, sodass eine einfache Nachverfolgung für spätere Arbeit und Auswertung möglich ist.
- Magnifying Glass: Es ermöglicht winzige Details genauer zu betrachten.
Ebenfalls ist es möglich, mehrere Effekte auf einmal übereinander zu legen. Beispielsweise könnte man beginnen, das Rauschen im Bild zu reduzieren, und dann mit Pseudofarben den verblassten Text hervorholen. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten und die Kontrolle darüber liegt ganz bei den Benutzer*innen.
Aufzeichnungen behalten
Proteus macht es einfach, die begonnene Arbeit zu speichern und gleichzeitig die Arbeitsschritte zu verfolgen. Diese werden automatisch in einer .txt-Datei gespeichert, die alle Bearbeitungen beinhaltet:
- welche Effekte angewandt wurden,
- die jeweiligen Uhrzeiten,
- die Autor*innen/Benutzer*innen.
Diese Datei unterstützt die Benutzer*innen dabei, die Übersicht zu behalten, und ermöglicht so ein schnelles Vor und Zurück sowie das Arbeiten im Team.
Es wird eine kostenlose und einfache Handhabung gewährleistet, die Paläograph*innen, Studierenden und anderen Forschenden unabhängig von deren Level und Fähigkeiten bei der Arbeit mit Handschriften hilft. Warum an der Oberfläche bleiben, wenn man so viel tiefer gehen kann? Mit Proteus liest man Handschriften nicht nur, man erkundet sie.
Fazit
Proteus wurde mit einem speziellen Fokus auf die Handschriftenanalyse entwickelt, um eine Lücke in bestehenden Tools wie HOKU zu schließen, die eher allgemein und komplex gehalten sind. Ein wesentlicher Designfokus von Proteus liegt darauf, alle leistungsstarken Funktionen durch einfache Button-Klicks anwendbar zu machen, um eine benutzerfreundliche Erfahrung zu gewährleisten. Im Gegensatz zu HOKU, das von den Nutzer*innen erfordert, durch Diagramme und Prozesse zu navigieren, um ein einziges Bild zu verbessern, vereinfacht Proteus den Arbeitsablauf und macht es für die Nutzer*innen ohne spezialisiertes technisches Wissen zugänglich. Diese Einfachheit geht nicht auf Kosten der Tiefe, sondern ermöglicht es den Nutzer*innen, verborgene Details in Handschriften auf effiziente, intuitive Weise zu entdecken.
Die Implementierung von Proteus dauerte etwa drei Monate, eine relativ kurze Zeit für ein solch fortschrittliches Tool. Wie bei jedem Entwicklungsprojekt gab es jedoch auch Herausforderungen. Das Team stieß während des Prozesses auf verschiedene technische Fehler und Bugs, was in der Softwareentwicklung üblich ist. Diese waren größtenteils Standardprobleme, aber deren Überwindung war entscheidend, um das reibungslose Funktionieren der Software zu gewährleisten, insbesondere angesichts ihrer umfangreichen Bildverarbeitungsfunktionen.
In dieser Phase umfasst die aktuelle Version von Proteus alle Funktionen, die ursprünglich für das Tool geplant waren. Es wurden keine größeren Funktionen im Entwicklungsprozess ausgelassen, aber das Team arbeitet bereits an Updates, die die Funktionalität in zukünftigen Versionen erweitern werden. Diese Updates zielen darauf ab, die Software noch vielseitiger zu machen, die Benutzererfahrung weiter zu bereichern und ihren Anwendungsbereich in der Handschriftenforschung zu erweitern.
In Zukunft gibt es einen wichtigen Aspekt, der sowohl uns als auch wahrscheinlich die Leser*innen interessieren wird: die Zugänglichkeit von Proteus. Die Software wird als Teil des eManuSkript-Projekts auf einer designierten Website verfügbar sein, die mit dem Institut für Digital Humanities in Göttingen verbunden ist. Zusammen mit Proteus werden auch andere spannende digitale Tools auf dieser Plattform veröffentlicht, die eine wertvolle Ressource für Interessierte im Bereich der Handschriftenforschung darstellen. Dies stellt sicher, dass Proteus nicht nur einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung steht, sondern auch Teil einer größeren Initiative wird, die darauf abzielt, die Studien historischer Handschriften voranzutreiben.
Da wir uns noch in der Entwicklung dieser Anwendung befinden, würde wir uns sehr über Feedback und Ideen freuen.
| Mohamed Basuony studiert im Master Applied Computer Science an der Universität Göttingen. Er ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt eManuSkript. |
| Nuray Haskilic ist Masterstudentin der Digital Humanities an der Universität Göttingen und Hilfskraft im Projekt eManuSkript. |
| Aşina Aleyna Yıldız ist Masterstudentin der English Literature, Language & Culture an der Universität Göttingen und Hilfskraft im Projekt eManuSkript. |
- Siehe dazu auch unseren ausführlichen Beitrag in DigiTRiP vom 15. Januar 2025: Multispektralfotografie – Das Unsichtbare lesen. [↩]
OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
DigiTRiP-Redaktion (17. Februar 2025). Proteus – Handschriftengeheimnisse aufdecken. DigiTRiP. Abgerufen am 10. November 2025 von https://doi.org/10.58079/13bto


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